„Es gibt keine Tyranneien, die nicht versuchen, die Kunst einzuschränken, weil sie die Macht der Kunst sehen. Kunst kann der Welt Dinge sagen, die sonst nicht geteilt werden können. Kunst vermittelt Gefühle.“

- Volodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine

Individualism

© Vlada Ralko. Photo: Sergey Illin
проєкт «Експонати»/ the Exhibits, 2021

Exponate


Oft merkt man gar nicht, wie die Dinge, die noch vor kurzem zum Alltag gehörten, unmerklich in die Kuriositätenkabinette gewandert sind. Umgeben von der Routine der jüngsten Vergangenheit sind manche Gegenstände und Symbole so gewöhnlich geworden, dass sie unsichtbar sind. Andererseits werden Dinge, die uns wochentags und am Wochenende dienten, Zeichen, die früher unsere Umgebung prägten, jetzt in Vitrinen gestellt und zu Museumsexponaten gemacht.
Diese Herausnahme von Alltagsgegenständen aus ihrer gewohnten Umgebung, um sie in die rituelle Politik der Erinnerungspraxis einzubinden, erscheint mir wie ein heimtückischer Betrug. Wenn man die Umrisse eines vertrauten Kindheitsgegenstandes unter dem Museumsglas entdeckt, kann man nicht anders, als überrascht und anschließend eifersüchtig auf eine externe Erzählung zu sein, die einem gewissermaßen die eigenen privaten Erinnerungen stiehlt. Diese Gefühle verwandeln sich jedoch sofort in steife (schreckliche?) Langeweile, da die Zeichen der intimen Geschichte entleert und neutralisiert werden und unter den Augen der Allgemeinheit zu verstauben beginnen. Die sogenannte Freisetzung von Erinnerungen hat einen schalen Beigeschmack: Ein Gegenstand aus einem Familienhaus oder ein Zeichen aus einer Höhle geheimer Erinnerungen wird gewaltsam entwendet, öffentlich zur Schau gestellt oder umbenannt. Dadurch entstehen Hohlräume in den Tiefen des eigenen Gedächtnisses, die in der Folge durch den absackenden Boden der privaten Vergangenheit gefüllt werden, der die Landschaft einer Biografie verändert. Zusammen mit den Dingen, die zur Schau gestellt werden, verliert man die persönlichen Erinnerungen und bekommt stattdessen eine Reihe von rituellen Determinanten angeboten. Ich werde das Gefühl nicht los, dass es sich bei Museumsausstellungen um eine Art exhibitionistisches Auspacken eines Familienschranks handelt; gleichzeitig gleicht ein Museumsbesuch einem schläfrigen, absichtsvollen Hinschauen, das sich oft auf eine unheimliche Weissagung durch die Eingeweide einer individuellen Erinnerung beschränkt. Die sprichwörtliche schmutzige Wäsche, die nicht in der Öffentlichkeit gewaschen werden darf, wird plötzlich zum Talisman einer Epoche erhoben; ein Papierfetzen oder ein Haarwirrwarr wird durch das Museumslicht wie von einer Aureole erhellt. Die Vergangenheit absorbiert die Gegenwart und wehrt mich mit meinen eigenen Dingen ab, die ihrerseits in ihrer Untätigkeit seltsam bedeutsam werden. Ein anonymes Territorium des kollektiven Gedächtnisses verschlingt langsam aber sicher den Alltag, und dieser Prozess ist so hoffnungslos kontinuierlich, dass ein Entrinnen daraus in ein lebendiges Leben nur durch einen wahnsinnigen Salto möglich ist.
Wie seltene archäologische Funde werden zufällige Schrottteile des verbrauchten Alltags an die Oberfläche des Heute geworfen. Wenn man sie untersucht, nimmt man das Schicksal eines perversen Sammlers an, während die Zeit, die für einen Moment unendlich schien, sich augenblicklich in eine Masse von Fleisch verwandelt, das einem im Nacken sitzt. Man hat keine andere Wahl, als eine falsche Fährte zu legen, um nicht entlarvt und in eine Vitrine gesperrt zu werden, die sich in eine weitere denkmalgeschützte Kuriosität verwandelt.


Vlada Ralko